Grenzöffnung
Grenzöffnung
Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs mussten sich die Welt und vor allem die europäischen Staaten jener neuen Herausforderung stellen, die von der Situation des Kalten Krieges und dessen jahrzehntelanger Dauer ausging. Die ideologische (und dieser Ideologie entstammende wirtschaftliche) Konfrontation der zwei großen Machtblöcke bzw. das scharfe Wettrüsten trieben den ehemaligen sozialistischen Block in Mittelosteuropa gegen Ende des 20. Jahrhunderts an den Rand des totalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bankrotts. Die immer offensichtlicheren Schwierigkeiten wurden von Moskau und von den von dort angewiesenen sozialistischen Regierungen abgestritten. In den meisten Staatsführungen wurden dennoch Stimmen laut, die auf die unumgänglichen Veränderungen drängten. Glasnost und Perestroika, die durch Gorbatschow bekannt gemacht wurden, reichten aber nicht aus, um Lösungen für die vorhandenen Probleme zu finden. Die Erkenntnis, dass das wirtschaftliche und gesellschaftliche System, das auf einem kommunistischen Weltbild beruht und mit diktatorischen Mitteln aufrechterhalten wird, nicht mehr aufrechterhalten werden kann, war notwendig, jedoch nicht im Geringsten selbstverständlich: Der Warschauer Pakt bzw. die in der Führungsriege der Parteienstaaten immer noch bestehende Moskautreue verhinderten Erneuerungsprozesse.
Die Trennlinie zwischen Ost und West, für die von Winston Churchill der Begriff „Eiserner Vorhang“ geprägt wurde, bestimmte die geopolitische Dynamik der 1980er Jahre in entscheidendem Maße. Der Eiserne Vorhang, der wegen der Grenzanlagen nicht nur an der ungarischen Westgrenze von der Metapher zum wahren Hindernis wurde, zerschnitt Europa nicht nur physisch, sondern auch auf ideologischer Ebene in zwei Teile. Auf gesellschaftlicher und Nationalitätenebene waren einerseits die Menschenrechtsverletzungen in Ceausescus Terrorregime, andererseits die wachsende Unzufriedenheit in Ostdeutschland ein Problem.
Zur Beruhigung der Lage in Rumänien konnte der ungarische Staat nur wenig beitragen, auf diplomatischer Ebene ließ Gyula Horn jedoch nichts unversucht, um die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf den Machtmissbrauch und die schweren Menschenrechtsverletzungen unter Ceausescu zu lenken. Auf die deutsche Frage fanden die Németh-Regierung und ihr Außenminister Gyula Horn eine effektive Antwort. Da man die Situation rasch erkannte, begannen die Gespräche zur Flüchtlingskrise und zu den ungarisch-deutschen, ungarisch-österreichischen Beziehungen bald und diese mutige Politik brachte schließlich riesige Veränderungen in der gesamten europäischen Politik. Um für die damals schon unbestreitbaren Fragen Lösungen zu finden, begann die ungarische Regierung langwierige Verhandlungen mit den betroffenen Staaten.
Die künstliche Trennung von DDR und BRD, die bedrohliche Präsenz der Berliner Mauer führten zu ernstzunehmenden gesellschaftlichen Spannungen. Der Bau der Mauer hatte Familien auseinandergerissen, Freunde voneinander getrennt und die Verletzung der Grenze konnte schwere, ja lebensbedrohliche Folgen haben. Wir wissen von zahlreichen Fällen der Flucht, die mit dem Tod endeten. Die Menschen, die über diese streng bewachte Grenze flüchten wollten, wurden zumeist von Polizisten getötet, doch sind auch zahlreiche Selbstmorde im Zusammenhang mit der Mauer bekannt. Die Tragödien von Menschen, die von ihren Familien, ihren Freunden getrennt worden waren, sind das beste Beispiel dafür, welche Auswirkungen diese Situation voller politischer Spannungen und Drohungen auf den Kontinent und seine Menschen hatte. Für die Bürger beider Deutschlands bot das Ungarn unter Kádár, das sich zu einer weichen Diktatur gewandelt hatte, die Möglichkeit und den Ort Familie oder Freunde aus dem jeweils anderen Deutschland zu treffen. In den 1970ern wurde es üblich, dass sich die ost- und westdeutschen Touristen einmal im Jahr, an den Ufern des Balatons, trafen. Diese „Familienzusammenführungen“ im Rahmen der Sommerfrische machten auch einem Außenstehenden klar, dass die wenigen Jahrzehnte, während denen man sich getrennt entwickelt hatte, zu riesigen Unterschieden geführt hatten.
In den 80er Jahren entstand dann die Idee, dass die Ostdeutschen, die nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren wollten, über Ungarn in den „Westen“ gelangen könnten. Der innenpolitische Druck, der durch die wachsende Zahl an Ostdeutschen, die in den Westen gelangen wollten, ständig wuchs, führte schließlich zu einer radikalen Entscheidung.
Der Zerfall der Weltordnung mit ihren zwei Machtblöcken führte zu großen Veränderungen auf dem gesamten Globus, hatte aber zweifelsohne seine größten Auswirkungen in Europa. Obwohl es Politiker gab, die den Startschuss für Reformprozesse in den kleinen mittelosteuropäischen Staaten gaben, war die Aufgabe keineswegs einfach. In den Nachbarstaaten, die ebenfalls mit der Sowjetunion verbunden waren, ging der Wendeprozess nicht so problemlos vonstatten wie in Ungarn. Die Tatsache, dass die Wende in Ungarn in ihrer friedlichsten Form verlief, war ein wichtiger Faktor bei der Stabilisierung der Lage innerhalb Europas. Dass Ungarn sich relativ früh auf den Weg zu Reformen machte und die begabten Vertreter einer neuen politischen Strömung das Ruder in die Hand nehmen konnten (Miklós Németh und seine Regierung, Gyula Horn) war ein großer Vorteil für alle Akteure der damaligen Politik in Europa. Gyula Horns Schaffen als Außenminister (davor als Staatssekretär für Äußeres und Diplomat) ließen eine Atmosphäre des Vertrauens gegenüber dem ungarischen Staat in Europa (und den Vereinigten Staaten) entstehen. Ungarn war in diesem Umfeld imstande, die Brückenfunktion zu übernehmen und aus dem Sozialismus in Richtung Kapitalismus nach westlichem Vorbild und hin zur Schaffung eines demokratischen Systems zu führen.
Die ungarische Regierung musste mit der DDR-Führung über das Schicksal der DDR-Bürger, die sich in Ungarn aufhielten, hart verhandeln. Mit Unterstützung des Regierungschefs Miklós Németh betonte Gyula Horn als Außenminister zahllose Male, dass die deutsche Frage ausschließlich humanitären Gesichtspunkten entsprechend und ohne Gewalt gelöst werden müsse.
Die reformfreudige ungarische Führung geriet somit mit Erich Honecker in Konflikt, dennoch verfolgte sie weiterhin ihren Kurs, den sie mit der Ausgabe von Reisepässen, die für alle Länder der Welt gültig waren, bzw. dem Betritt zur Genfer Flüchtlingskonvention begonnen hatte.
Obwohl die ostdeutsche Regierung von der ungarischen Führung, von Miklós Németh und seiner Riege, die Rückschiebung der Asylsuchenden forderte, gab Gyula Horn – trotz der Gefahr sowjetischer Vergeltung – am 10. September 1989 bekannt, dass die ostdeutschen Staatsbürger, die sich in Ungarn aufhielten, das Land verlassen und in einen Drittstaat weiterreisen dürften, wenn sie über ein Dokument verfügten, dass ihre Aufnahme garantierte. In Folge konnten mehr als 7000 ostdeutsche politische Flüchtlinge in den Westen gehen und musste keine Strafe fürchten. Es gilt anzumerken, dass Ungarn schon vor dieser Entscheidung wichtige Schritte in Richtung Öffnung nach Westen getan hatte: Im Zeichen der Entwicklung von guten Beziehungen zu Österreich hatte Gyula Horn gemeinsam mit dem österreichischen Außenminister Alois Mock am 27. Juni 1989 symbolisch einen Teil des Grenzzauns durchschnitten. Die Fotos von diesem Ereignis gingen durch die Weltpresse und wurden zum Symbol für das Ende der Teilung Europas.
Das Ereignis war für die weiteren Veränderungen im Europa der 80er Jahre von großer Bedeutung. Nicht nur, weil eine kommunistische Regierung das erste Mal erklärte, dass die Einhaltung der internationalen Übereinkommen über die Menschenrechte wichtiger sei als die Verträge zum Warschauer Pakt oder mit dessen Mitgliedsstaaten. Das ist auch deshalb von Bedeutung, weil diese Entscheidung - wie später namhafte Politiker und Experten meinten - der Anstoß für die Wiedervereinigung der zwei deutschen Staaten gewesen war.
Nach dem Beschluss kamen jene Prozesse in Gang, die sicherstellten, dass Deutschland, jener Staat in Europa, der von herausragender Wichtigkeit ist, nach mehreren Jahrzehnten der Teilung wiedervereinigt und frei wurde und auch anderen Ländern in Europa dabei half, diese Freiheit wiederzuerlangen. Der Ministerpräsident Ungarns, Miklós Németh, und Außenminister Gyula Horn sowie seine Mitarbeiter, die unerschütterlich am Ausbau der diplomatischen Beziehungen Ungarns arbeiteten, leisteten bei der Verwirklichung einer friedlichen Wende in Europa, bei der Restauration der Freiheit Großes.
Gyula Horn wurde auf der internationalen politischen Bühne zum Symbol des Endes des Eisernen Vorhangs, was durch zahlreiche Auszeichnungen besonders aus Deutschland unterstrichen wurde.
Er wurde zum Symbol des wiedervereinten Europas, zum Musterbeispiel eines Staatsmannes, der dem Westen, demokratischen Werten gegenüber aufgeschlossen ist und die Interessen des einfachen Mannes im Auge behält. Auch bei seiner späteren Tätigkeit blieb er diesen Werten verpflichtet. Obwohl in den letzten Jahren die Beziehungen zwischen Ungarn und der Europäischen Union eher von Spannungen geprägt sind, waren die Ereignisse der späten 80er Jahre und die Regierungszeit Gyula Horns jene Eckpfeiler, die den guten Ruf Ungarns in internationalen Kreisen begründeten und das Tor zu Entwicklung und Integration öffneten. Gyula Horn ist wegen seiner diplomatischen und außenpolitischen Tätigkeit bis heute einer der bekanntesten ungarischen Politiker im internationalen politischen Leben.