Gyula Horn Biografie
Kindheit und frühe Jahre
Gyula Horn wurde als drittes Kind des Lieferantengehilfen Géza Horn und der Fabrikarbeiterin Anna Csörnyei am 5. Juli 1932 in Budapest geboren. Die Familie lebte, wie das damals für die Arbeiterklasse normal war, in Armut. Die allgemeine gesellschaftliche, politische Lage gegen Ende der 1930er Jahre verschlimmerte ihre Situation jedoch zusätzlich. Horns Vater wurde 1944 von der Gestapo verschleppt und aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet, was das Überleben der Familie noch viel schwieriger machte.
Deshalb war Gyula Horn gezwungen, nach der 5. Klasse die Grundschule zu verlassen und arbeiten zu gehen. Sein Einkommen war wichtig, ohne dieses hätten seine Mutter, seine Geschwister und er kein Auslangen gefunden. Die Veränderungen nach dem Krieg wirkten stark auf das Leben des Politikers. Er machte in der Arbeiterabendschule seinen Pflichtschulabschluss nach und legte 1950 im Abendgymnasium das Abitur ab. Da im Kommunismus begabte junge Arbeiter gefördert wurden, konnte Horn dank eines Stipendiums die Hochschule für Wirtschaft und Finanzen in Rostow am Don besuchen. Er machte dort 1954 seinen Abschluss. Danach arbeitete er im ungarischen Finanzministerium als Referent. Im gleichen Jahr trat er auch der Ungarischen Arbeiterpartei bei.
1956 ereignete sich in seiner Familie eine weitere Tragödie: Sein älterer Bruder verschwand während des Volksaufstandes unter ungeklärten Umständen (nach der Geburt seiner Tochter). Die Familie ist überzeugt, dass er von Aufständischen umgebracht wurde. Ende Oktober, Anfang November 1956 war Horn Nemzetőr, Mitglied der losen Organisation, die gegen die sowjetischen Besatzungstruppen kämpfte. Später trat er der MSZMP, der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, bei. Auf Ersuchen des Exekutivkomitees der Partei war er von Dezember 1956 bis zum folgenden Juni Mitglied der „Kádár-Husaren“, die nach dem Volksaufstand gemeinsam mit der Roten Armee für die Wiederherstellung der Ordnung sorgten. 1957 erhielt er die Erinnerungsmedaille für die Arbeiter- und Bauernmacht. Diese Auszeichnung erhielten nur hochrangige Personen, die bei der Niederschlagung der „Konterrevolution“ eine bedeutende Rolle gespielt hatten. Seine Rolle während des Volksaufstands versuchte er auch später nicht abzustreiten, diese Periode seines Lebens warf aber nach der Wende einen Schatten auf sein bisheriges Werk und bot seinen politischen Gegnern eine große Angriffsfläche.
Laut Auskunft der Familie fühlten auch Horns Eltern schon politisch links, sie waren Menschen, die sich zu den Werten der Arbeiterklasse bekannten. Man erzählt, dass man seinen Vater gerade wegen seiner politischen Ansichten verschleppt hätte. Diese linken Werte – der Respekt für die Arbeit, der Glaube an die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Gleichheit – bestimmten von Kindesbeinen an den Werdegang des Politikers Horn und sie spielten auch im Späteren eine große Rolle bei seiner Arbeit als Außenminister und Ministerpräsident. Obwohl Gyula Horn als Vertreter einer neuen, gebildeten und erfahrenen Generation, die viel von der Welt gesehen hatte und Fremdsprachen mächtig war, in der Führung der MSZMP tätig war, hörte er nie auf, ein im klassischen Sinne linker Politiker zu sein, der den „kleinen Mann“ vertrat. Während seiner Regierungszeit schuf und festigte er jene demokratischen Grundwerte für die Linke, die Ungarn durch den unsicheren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Wandel der Wende geleiteten und die Möglichkeiten zur europäischen und – im weiteren Sinne – zur Integration in das westliche Bündnissystem schufen.
Parlament
Ab 1959 begann er in der sowjetischen Hauptabteilung des ungarischen Außenministeriums zu arbeiten. Zwei Jahre später wurde er wirtschaftspolitischer Sekretär der ungarischen Botschaft in Sofia, danach versah er diplomatischen Dienst in gleicher Funktion an der Botschaft in Belgrad, später wurde er Botschaftsrat. Von 1969 bis 1985 machte Horn in der Außenpolitischen Abteilung des Zentralkomitees der Ungarischen Arbeiterpartei Karriere: Zuerst war er politischer Mitarbeiter, dann Konsulent, später stellvertretender Abteilungsleiter und schließlich Abteilungsleiter. 1970 absolvierte er die Politische Hochschule der MSZMP, später dissertierte er mit der Arbeit „Analyse des jugoslawischen Wirtschaftssystems“ und bereitete sich auf die Habilitation in den Wirtschaftswissenschaften vor. Im Laufe seiner wissenschaftlichen, wirtschaftspolitischen Tätigkeit veröffentliche er rund 200 Artikel und Aufsätze. 3 Bücher sind ebenfalls mit seinem Namen verbunden, unter ihnen die Biografie Cölöpök (Pfähle), erschienen 1991.
Seine parteipolitische Karriere kam richtig in Schwung, als er 1985 auf dem 13. Kongress der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) in das Zentralkomitee der Partei gewählt und zum Staatssekretär für Äußere Angelegenheiten ernannt wurde. Gleichzeitig wurde Horn auch Vorsitzender der ungarischen Sektion des ungarisch-finnischen zwischenstaatlichen Kulturausschusses. Ab Januar 1987 nahm er auch an der Arbeit des Ausschusses des Ministerrates teil, der sich mit internationalen Wirtschaftsbeziehungen befasste. Horn, der damals schon erfahrene und anerkannte Experte und Politiker, bewies in dieser Position seine Anpassungsfähigkeit und sein Talent, eine Situation rasch abschätzen zu können. Er wurde bei der Konsolidierung und Herausbildung guter Beziehungen mit den westlichen Staaten immer selbstsicherer.
Gyula Horn unternahm in der Kádár-Ära im Bereich Außenbeziehungen viele wichtige Schritte, die die internationale Beurteilung Ungarns verbesserten. Er gehörte ab den 80er Jahren dem Reform- und Fortschrittsflügel der Partei an.
Europa
Horns herausragendste und wichtigste Entscheidung – vom Standpunkt der Wende und der Annäherung an Europa (bzw. der Entfernung von der Sowjetunion) aus betrachtet – war die Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze für die DDR-Flüchtlinge. Die Verhandlungen mit der ostdeutschen Führung fanden in Bonn statt, wo Horn seinem humanitären Standpunkt treu blieb, während er betonte, dass man eine Lösung finden müsse, die keinem der betroffenen Staaten zum Nachteil gereiche. Obwohl Horn die Agenden des Außenministers in der Németh-Regierung erst ab Mai 1989 versah, hatte er an der Vorbereitung der Grenzöffnung, die das auslösende Moment für die Veränderungen in Osteuropa war, schon als Staatssekretär gearbeitet. Durch das Paneuropäische Picknick, das am 19. August 1989 abgehalten wurde, und die Durchtrennung des Grenzzauns, die davor, am 27. Juni, erfolgt war (Gyula Horn und der österreichische Außenminister Alois Mock setzten diesen symbolischen Akt), war der ungarische Standpunkt deutlich gemacht worden. Nachdem die Verhandlungen mit der DDR-Spitze zu keinem Ergebnis führten, entschloss sich Ungarn (mit Unterstützung Österreichs), die österreichisch-ungarische Grenze für die DDR-Bürger zu öffnen. Am 11. September erfolgte trotz des Protests der DDR-Führung die Grenzöffnung und die ostdeutschen Flüchtlinge konnten die Grenze „in den Westen“ ohne Einschränkungen überqueren.
Die Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich löste die positivsten geopolitischen Veränderungen im Europa des 20. Jahrhunderts aus und stellte das internationale Ansehen Ungarns wieder her.
Neben den außenpolitischen Erfolgen kann auch die Stabilisierung der ungarischen innenpolitischen Situation zum Teil ihm zugeschrieben werden: Im März 1990 unterschrieb Horn unter Anwesenheit von Vertretern der Opposition und der Moskauer Führung in Moskau die Vereinbarung über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn.
Vom Beginn der 1980er Jahre an nahm Horn regelmäßig an verschiedenen europäischen und sonstigen internationalen Gipfeltreffen teil. Als Staatssekretär für Äußeres und später als Außenminister der Németh-Regierung nahm er an außerordentlich vielen diplomatischen Einsätzen teil.
Auf der Konferenz des Nordatlantikpaktes, die im November 1988 in Hamburg stattfand, sprach er über die engen Bande, die Ungarn mit Europa verbinden, bzw. über jene Brücke, die die NATO zwischen Europa und dem amerikanischen Kontinent darstellt und darstellen kann. 1990 erwähnte er in Bonn, nun schon als Außenminister, dass sein Land auf jeden Fall den Austritt aus dem Warschauer Pakt und den Betritt zur NATO andenken sollte.
Diese Aussage rief in Ungarn und international zuerst Schweigen und dann vorsichtige Ablehnung hervor, zeigt aber sehr gut das Streben Horns, Ungarn auf den Weg zur europäischen Integration zu bringen. Mit diesen diplomatischen Erfolgen und Bestrebungen trug er dazu bei, dass Ungarn von der europäischen Staatengemeinschaft immer öfter als verlässlicher Partner betrachtet wurde.
Während seiner Zeit als Minister nahm Ungarn mit zahlreichen Ländern diplomatische Beziehungen auf, unter anderem mit dem Vatikan, Israel, Südafrika und Südkorea. Als Anerkennung seiner Tätigkeit als Außenminister wurde er mit der Goldenen Medaille der Gustav Stresemann-Gesellschaft ausgezeichnet, später erhielt er auch in Aachen den internationalen Karlspreis und das Große Verdienstkreuz der BRD. Mit dem Geld, das er mit den Auszeichnungen erhielt, gründete er eine Stiftung, die hungernden Kindern hilft. Danach erhielt er noch zahlreiche weitere, vor allem deutsche Auszeichnungen und Preise für seine Schlüsselrolle, die er bei der Beseitigung des Eisernen Vorhangs gespielt hatte und für die humanitären Leistungen im Rahmen seiner Arbeit.
Er war einer der ersten Wendepolitiker, die (neben der Möglichkeit des NATO-Beitritts) die Wichtigkeit der Europäischen Union betonten sowie die Wichtigkeit der Zugehörigkeit Ungarns zur Europäischen Gemeinschaft. Es ist diplomatischen und fachpolitischen Bestrebungen anzulasten, dass sich Ungarn nach der Wende schnell und dynamisch auf den Weg zur europäischen Integration begeben konnte und als Ergebnis dessen schon 10 Jahre nach Beginn der Regierungsarbeit Horns in die EU aufgenommen wurde.
Einen der wichtigsten außenpolitischen Erfolge seiner späteren Regierungsarbeit hatte Horn schon unter der Antall-Regierung 1991 begonnen vorzubereiten. Er empfahl eine Intensivierung der Beziehungen zur NATO, um Ungarns Sicherheit besser gewährleisten zu können. Ungarn begann im Sinne der Lehren, die aus dem NATO-Gipfel in Rotterdam gezogen worden waren, als „kooperativer Staat“ mit europäischen Integrationsorganisationen zusammenzuarbeiten.
Obwohl seine außenpolitischen Erfahrungen und seine Fachkenntnis, die er sich während seiner Karriere angeeignet hatte, es ihm ermöglichten, Ungarns Integration in Europa voranzutreiben, schuf er nicht nur in diesem Bereich Bleibendes. Als Vorsitzender der MSZP tat er viel dafür, dass seine Partei sich zur europäischen sozialdemokratischen Partei mauserte, die moderne europäische Werte verinnerlichte.
Statt dem Führen theoretischer Diskussionen betonte er die Wichtigkeit der Lösung von praktischen Alltagsproblemen der Gesellschaft, trat für eine Zusammenarbeit mit den Menschen und Gewerkschaften ein. In Folge seiner Arbeit wurde die Partei 1992 in die Sozialistische Internationale aufgenommen.
Er nahm auch an der Arbeit des Historischen Ausschusses, der sich ab 1988 im Rahmen von gezielten Reformen mit der Aufarbeitung der Vergangenheit der Sozialistischen Arbeiterpartei beschäftigte, teil. 1989 war er einer der Begründer der heute noch bestehenden Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) und wurde auch in ihren Vorstand gewählt. Bei den Parlamentswahlen 1990 kandidierte Horn auf dem dritten Listenplatz der Partei, errang ein Gebietsmandat und zog als Abgeordneter ins Parlament ein, wo er zum Vorsitzenden des Außenausschusses des Parlaments ernannt wurde. 1990 wurde er in den Aufsichtsrat des Stockholm International Peace Research Institute gewählt, später wurde er Mitglied des Europäischen Ehrensenats. Obwohl er wegen der Angriffe aus der Regierungspartei gezwungen war, vom Vorsitz des Außenausschusses zurückzutreten, setzte er seine außenpolitische Tätigkeit fort. Er hielt besonders die Zusammenarbeit mit den mitteleuropäischen Staaten für wichtig, deshalb unterhielt er gute Beziehungen zu den Ministerpräsidenten Polens und Tschechiens, umriss einen Kooperationsplan von Ungarn, Österreich, der Slowakei und Slowenien, hielt Vorträge und nahm an rund vierhundert Bürgerforen teil. Laut Meinungsumfragen war er schon Monate vor den Parlamentswahlen von 1994 der beliebteste Politiker des Landes.
Regierungszeit
Bei den Parlamentswahlen 1994 führte er die Landesliste der MSZP an sowie die Budapester regionale Liste. Die Sozialisten gewannen die Wahlen mit absoluter Mehrheit, sie errangen 54 Prozent der Abgeordnetenmandate. Am 4. Juni wurde Horn auf dem Parteikongress zum Ministerpräsidentenkandidaten gekürt und erhielt von der Parteiführung das Mandat mit den Freien Demokraten (SZDSZ) in Koalitionsgespräche zu treten. Obwohl die Zahl der Abgeordnetensitze, die man bei der Wahl gewonnen hatte, an sich ausgereicht hätte, um eine Alleinregierung zu bilden, verhalf die Zusammenarbeit mit der SZDSZ der Regierung zu einer überwältigenden Mehrheit im Parlament. Diese Regierung schuf zahlreiche Kontrollmaßnahmen, die Regierungen mit großer Mehrheit – wie die eigene – im Zaum halten sollten. Damit sollte ein demokratisches Vorgehen gesichert und das Vertrauen der Gesellschaft gewonnen werden. Die Koalitionsregierung erklärte sich auch freiwillig dazu bereit, jene Gesetze, die zur Abänderung eine Zweidrittelmehrheit verlangten (z. B. Verfassungsgesetze), ausschließlich mit Zustimmung durch die Opposition zu novellieren. Diese außergewöhnlich große Parlamentsmehrheit verwendete die Koalitionsregierung dazu, die Finanzkrise, in der sich das Land befand, abzuschwächen und den wirtschaftlichen Verfall aufzuhalten. Gyula Horn betonte während seiner Regierungszeit, dass die Staatsführung sich in erster Linie den Herausforderungen der Gegenwart stellen müsse und sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigen solle. Während seiner Regierung blieb er weiterhin seinen Werte und Interessen der früheren Jahre treu: Sein Ziel war die Schaffung eines europäischen Ungarns, das auf starken sozialen Fundamenten ruhen und nach den Regeln der Marktwirtschaft funktionieren sollte.
Das Bokros-Sparpaket, das man 1995 verabschiedete, um die Wirtschaft zu stabilisieren und die Zahlungsfähigkeit des Landes zu steigern, löste sowohl bei der Opposition wie auch innerhalb der Partei starken Widerstand aus. Auch die gesellschaftliche Beurteilung des Pakets war zuerst ziemlich negativ: Wegen dieser Initiative und dem Schwächeln der koalitionären Zusammenarbeit verlor die Partei an Beliebtheit, während die Oppositionsparteien immer effektivere Kooperationsversuche starteten. Obwohl die Koalitionsregierung trotz ihres Beliebtheitsverlustes mit großen Erwartungen in die folgende Wahl ging, konnte sie diese nicht mehr für sich entscheiden.
Die Maßnahmen zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stabilisierung führten zwar innenpolitisch, in oppositionellen und zivilen Foren, zur harscher Kritik, auf internationaler Ebene aber hatten sie äußerst positive Auswirkungen. Als Zeichen des wiederhergestellten internationalen Vertrauens in Folge der Konsolidierungsmaßnahmen wurde Ungarn im Mai 1996 Mitglied der OECD. 1997 wurde von der Regierung eine Volksabstimmung über den NATO-Beitritt abgehalten und dem Ergebnis entsprechend beschloss das Parlament im Februar 1998 den Beitritt zum Nordatlantikpakt. In Folge bereitete sich Ungarn darauf vor, am 12. März 1999 gemeinsam mit Polen und Tschechien Vollmitglied der NATO zu werden.
Die folgenden Regierungen konnten mit jenem wirtschaftlichen und Vertrauenskapital wirtschaften und weiterarbeiten, das von Gyula Horns Regierung angehäuft worden war.
Nach 1998
Nachdem die Wahlen 1998 verloren worden waren, trat Horn vom Parteivorsitz zurück. Einige seiner internationalen Ämter behielt er aber auch weiterhin inne, zum Beispiel blieb er bis 2003 der stellvertretende Vorsitzende der Sozialistischen Internationale, ab 2002 war er unter der Medgyessy-Regierung als EU-Beauftragter des Ministerpräsidenten tätig. Nach langer Krankheit verstarb Gyula Horn am 19. Juni 2013 im Alter von 81 Jahren.
Familienfotos