Porträt
Porträt
Im Leben Gyula Horns und bei seinem politischen Werdegang spielten seine Kindheit, die er in der Horthy-Zeit verbrachte, und seine Sozialisierung, die er in jungen Jahren durchlebte, eine große Rolle. Wegen seines familiären Hintergrunds musste er schon in frühen Jahren verinnerlichen, dass der Kampf, die harte Arbeit nicht nur ein Mittel zur Weiterentwicklung sind, sondern das Überleben bedeuten.
Manche seiner Zeitgenossen blickten abschätzig auf seine Kommunikationsfähigkeiten, obwohl er imstande war, eine außergewöhnlich erfolgreiche Strategie zum Erreichen seiner Ziele auszuarbeiten. Eine wichtige Rolle spielten dabei seine eigenen Erlebnisse, die als Filter und Vermittlungsmedium für seine Botschaften dienten. Seine Reden, die ihm oft gedruckt von seinen Mitarbeitern vorgelegt wurden, schrieb er mit der Hand ab. Dieses Ritual diente nicht dem Auswendiglernen: Es half dem Regierungschef dabei, sich den Text zu eigen zu machen, ihn also von jedwedem Pathos zu befreien.
Er mochte Bürgerforen, auf diesen war in seinem Element. Er genoss es, auf solchen Veranstaltungen mit den Anwesenden zu reden, zu diskutieren und seinen eigenen Wählern nahe zu sein. Er lief auch niemals vor Journalisten davon: Horn verlangte keine Frage im Vorhinein und inszenierte auch keine Pressekonferenzen. Auf die Fragen der Journalisten antwortete er nach bestem Wissen und es gab auch durchaus die Möglichkeit, ihn bei seinen Reden zu unterbrechen. Horn war der Ansicht, dass die Kommunikation die Politik selbst sei, hat sie doch Auswirkungen auf das Leben anderer und kann sogar Gesellschaften beeinflussen. Deshalb hielt er es für wichtig, dass auch jene an diesem Prozess beteiligt sind, auf die er Auswirkungen hat. Unter anderem war es diese Denkweise, die ihn von den anderen Politikern abhob und durch die er sich eine gesellschaftliche Basis schaffen konnte: ausgehend von der COMECON-Welt über die weiche Kádár-Diktatur bis zu den Ideen über den Ausbau des Kapitalismus.
Horn war ziemlich der Einzige in der ungarischen Politik, der fühlte, dass die politischen Prozesse, die sich in Ungarn in Gang gesetzt hatten, nicht nur Ungarn betrafen: Die Wende, das drängende Verlangen nach politischen und gesellschaftlichen Veränderungen verstand er nicht als ungarisches, sondern als europäisches Phänomen. Er war imstande, dem Takt dieses Prozesses zu folgen und gleichzeitig die Vorteile und Nachteile zu überblicken.
Um die politische Erfolge zu verstehen, die Horn erreicht hat, müssen wir uns zuerst die Frage stellen: Warum gerade Gyula Horn? Gab es doch in seiner Generation auch andere begabte, ja herausragende Politiker und es war keine logische Folge, dass er Regierungschef sein würde - außerdem der erfolgreichste Regierungschef seit der Wende. Eine der wichtigsten Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Wende war, dass ein Zeitalter dämmerte, in dem es für einen Politiker unmöglich wurde, die Privatperson vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Er war unter den Ersten, die die Bedeutung des direkten Ansprechens von Zielgruppen erkannte. Mit seinen Büchern wob er ein Kommunikationsnetz, das er kontrollierte, somit bestimmte er selbst, wie er mit seinen Lesern kommunizierte. Seine Bücher trennte er jedoch von der Welt der Politik: Mit ihnen schuf er den formenden Politiker der neuen Art, dessen Ziel es war, mit seiner eigenen Gemeinschaft das Meistmögliche zu erreichen.
Die Politik von Gyula Horn wurde von seinem Patriotismus und seiner sozialistischen Einstellung bestimmt. Das Schicksal seiner Heimat war ihm extrem wichtig und wichtig war ihm auch, dass die ungarische Gesellschaft funktionierte und wuchs.
Oft wurde ihm vorgeworfen, dass er vor der Wende dem sowjetischen System gedient hatte: Seine Äußerungen und seine Handlungen zeigen jedoch, dass er das Sowjetsystem als Rahmen ansah, der ihm und seinen Schicksalsgenossen die Möglichkeit bot, aus jenen Lebenssituationen auszubrechen, aus denen sie im vorherigen System niemals hätten ausbrechen können. Er wusste, dass dieses System einer gesellschaftlichen Schicht gesellschaftliche Mobilität ermöglichte und dazu bedurfte es der Anpassung. Später spürte er wiederum, dass dieser Rahmen unhaltbar war und eine Umgestaltung des Systems dringend nötig. Die Umsetzung der gesellschaftlichen Veränderung und Modernisierung war für ihn gleichbedeutend mit jenen Bestrebungen, dass jeder etwas beitragen solle, damit es allen bessergehe.
Anpassung und die ständige Suche nach neuen Wegen charakterisierte seine Arbeit: Er suchte nach Grenzen, um zu sehen, wie die öffentliche Meinung denkt und lotete den Standpunkt aus, der noch zu vertreten war. Ein gutes Beispiel für diese Strategie ist der Vorschlag des NATO-Beitritts: Obwohl er die Notwendigkeit dafür spürte, trat er, als er erkannte, dass die Gesellschaft noch nicht bereit dafür war, mit seinen Forderungen einen Schritt zurück. Seine geistige Beweglichkeit war außerordentlich, deshalb wurde er von vielen als „schlauer Fuchs“ betrachtet. Er war imstande, mehr Alternativen als andere zu sehen und diese Fähigkeit konnte er gemeinsam mit seinem strategischen Talent in den Dienst von ihm wichtigen Angelegenheiten stellen.
In der Politik hatte er keine wirklichen Partner, aber auch keine echten Herausforderer. Die Gemeinschaft war ihm jedoch sehr wichtig: Unter seiner Führung arbeitete man daran, dass die MSZP als wirkliche Gemeinschaft funktionierte. Das versuchte Horn auf dem Wege des Diskurses, der Debatte zu erreichen. Die Diskussion, das ständige Aufeinanderprallen verschiedener Standpunkte, half ihm dabei, die Partei, die unter seiner Führung stand, auf dem Mittelweg zu halten, den auch er bestrebt war zu gehen. In Folge konnte er sich so sehr in seinem eigenen politischen Umfeld „einnisten“, dass andere ihn in seiner Position nicht herausfordern konnten. Von sinnlosen Scharmützeln hielt Horn nichts. Er begab sich nur, wenn unbedingt nötig, auf Konfrontationskurs. Prestige bedeutete ihm nichts, deshalb war Horn immer bestrebt, aus etwaigen Konfrontationen auf höfliche Weise herauszukommen.
Seine Persönlichkeit war von der Dichotomie des Gefangenseins und der Freiheit geprägt: Für ihn war Freiheit gleichbedeutend mit Chancengleichheit und diese sah er auch in der seitdem auf vielerlei Art interpretierten Grenzöffnung verwirklicht. In der letzten Vorwenderegierung, der Németh-Regierung, hatte er eine wichtige und bedeutende Rolle inne. Obwohl die Grenzöffnung nicht seine persönliche Entscheidung war, war er an der Entscheidungsfindung und der Arbeit im Zusammenhang damit beteiligt. Auf internationalem Tapet wurde er offiziell zum Symbol für die Grenzöffnung und das Ende des Eisernen Vorhangs. Diese Rolle hatte er nicht für sich eingefordert, er füllte sie jedoch auf würdige Weise aus. Als Mitglied der osteuropäischen Wendeelite kämpfte er für die Werte seiner Heimat und eines sich vereinenden Europas. Für diesen edlen Zweck setzte er die legitimierte Macht seiner Position ein.
Disziplin und Selbstdisziplin waren für Horn die Voraussetzung für gute Arbeit, die Sicherstellung einer gewissen Ordnung. Unter seiner Führung war verspätetes Erscheinen inakzeptabel und seinen Respekt konnte er auch während der Regierungszeit bewahren. Unter anderem ist auch das ein Grund dafür, dass die Wähler ihn als wirkliche Führungsperson anerkannten: Sie spürten, dass Gyula Horn jene Art des Führers war, der mit starker Hand geschickt führte, aber dennoch zum Volk gehörte und für dieses immer noch erreichbar war.
Obwohl ihn materielle Güter nicht weiter interessierten, half ihm sein Diplom als Volkswirt viel dabei, die Alltagsprobleme des kleinen Mannes zu verstehen. Im Mittelpunkt seiner politischen Handlungen stand stets die Frage, wie man den Kapitalismus auf eine Weise entwickeln könnte, dass alle gut damit fahren. Dieser Wille zum Geben machten für ihn die Regierungsarbeit besonders schwierig. Sein ehemaliger Büroleiter, Dr. Elemér Kiss, meinte über Horn: „Während seiner Regierungszeit fochten in ihm der Regierungschef und der sozialistische Politiker einen Kampf aus. Er wollte den Menschen stets etwas geben, weil er fühlte, dass dies seine moralische Pflicht sei. In seiner Position als Regierungschef kam er damit in Konflikt. Man kann nicht immer nur geben. Wenn es nötig war, drängte er den sozialistischen Politiker in den Hintergrund. Das fiel ihm schwer, doch das war für das Land notwendig.“ Obwohl diese Diversität zu Konflikten in Gyula Horns Leben führte, war er bestrebt auch während seiner Regierungszeit seinen selbst auferlegten sozialdemokratischen Werten Genüge zu tun. Seine bedeutendste sozialpolitische Initiative war die Freifahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln für alle über 65 Jahren. Diese Maßnahme blieb bis zum heutigen Tag unter allen Regierungen bestehen. Damals sah jedoch noch niemand voraus, wohin sich der Kapitalismus in Ungarn oder anderen Ländern, mit denen wir eine Schicksalsgemeinschaft bilden, entwickelt, und deshalb lebte in Horn, wie auch in allen anderen, eine Art der optimistischen wirtschaftlichen Erwartung. In ihm lebte der aufrichtige Glaube an Ungarns Zukunft und er war außerordentlich enttäuscht, dass jene universellen Werte, für die er sich stark gemacht hatte, in Ungarn nach der Wende nicht Fuß fassen konnten.
Mit der Demokratie als Institution verband ihn eine besondere Beziehung. Ferenc Baja, ein enger Mitarbeiter des ehemaligen Ministerpräsidenten und Ex-Ministers, formulierte wie folgt:
„Für ihn war die Gemeinschaft am wichtigsten. Er glaubte nicht so sehr an die institutionalisierte Demokratie, doch wusste er, dass es auch der Institutionen bedarf. Für ihn zählte eigentlich die Basisdemokratie: Im Interesse der Gemeinschaft suchte er nach Kompromissen. Obwohl Horn die Prestige-Institutionen nicht mochte, respektierte er die repräsentative Demokratie ohne Vorbehalte und hielt ihre Regeln mit gnadenloser Konsequenz ein. Er ging nicht raffiniert mit den Gesetzen um, er respektierte das Gesetz und verabscheute die kreative Rechtsfindung.“ Gyula Horn blieb während seiner gesamten Laufbahn ein Politiker, der von den Interessen der Gemeinschaft geleitet wurde, der rational dachte und für soziale Gerechtigkeit und eine Demokratie nach europäischem Muster arbeitete.
Das internationale Erbe von Gyula Horn
Trotz seiner euroatlantischen Überzeugung wurde diese erst Mitte der 80er Jahre zu einem Pfeiler seiner Arbeit. Schon ab Anfang der 70er Jahre hielt Horn es für besonders wichtig, mit den westlichen sozialdemokratischen Parteien engere Beziehungen zu etablieren. Er äußerte einmal in einem Interview: „Ich habe 1974 nicht deshalb einen Artikel über die Sozialdemokratie und die Zusammenarbeit mit dieser geschrieben, weil man es mir befohlen hatte. Niemand hat mich angewiesen, ich habe es getan, weil ich Erfahrungen in diesem Bereich hatte. Weil wir über unsere Beziehungen die Funktionsweise Deutschlands und anderer entwickelter Länder kennenlernen konnten, also wie die Marktwirtschaft, die Demokratie, das Mehrparteiensystem in der Praxis funktioniert. Wir – ich – hatten also praktische Erfahrungen. Wir gehörten zu den Bevorzugten des Schicksals.“ Árpád Pünkösti erwähnte in seinem Buch ebenfalls, dass Horn im „Weißen Haus“, dem Bürogebäude des ungarischen Parlaments, zu den Vorkämpfern der Öffnung Ungarns in Richtung Westen gehörte. Er erkannte rechtzeitig, dass der schnelle Takt der Modernisierung es fast zur Notwendigkeit machte, gute diplomatische und außenpolitische Beziehungen mit der westlichen Welt aufzubauen.
Gyula Horn wurde zu einer bestimmenden Figur der europäischen Politik. Mit seinen Bestrebungen, den Wendestaat Ungarn aus dem Postkommunismus zu führen und die Demokratie zu festigen, errang er internationale Anerkennung.
Er erhielt in den 90er Jahren zahlreiche Preise und Auszeichnungen, mit denen ihm für seine Politik der Grenzöffnung und die humanitäre Handlungsweise im Zusammenhang mit den ostdeutschen und rumänienungarischen Flüchtlingen gedankt werden sollte. In der ungarischen Innenpolitik wurde er für seine Rolle in den Zeiten vor der Wende und seinen politischen Technokratismus oft angegriffen.
Horn war aber vom Westen aus gesehen einer der herausragendsten demokratischen Politiker Ungarns, dem die Region Mittelosteuropa im Bereich der europäischen Integration viel zu verdanken hat.
Obwohl sich Ungarn in den letzten Jahren augenscheinlich von der Politik, die Europäertum und europäische Werte hochhielt und in der Wendezeit die Weltsicht der Politiker bestimmte, entfernt, können wir dennoch zuversichtlich auf diese Zeitspanne zurückblicken. Wir vertrauen aufrichtig darauf, dass das Werk und Erbe Gyula Horns und seiner Regierung nicht spurlos am ungarischen politischen Leben vorübergegangen ist, denn die demokratischen und sozialdemokratischen Grundwerte, die in jener Zeit in der ungarischen Gesellschaft entstanden sind, spielen bis zum heutigen Tag eine wichtige Rolle im politischen Diskurs.
Gyula Horn als Schlüsselfigur der ungarischen Linken
Natürlich ist es unumgänglich, im Zusammenhang mit Gyula Horns politischem Werdegang auch kritischem Diskurs Raum zu geben. Wir müssen jedoch auf jeden Fall jene Leistungen und Wertvorstellungen hervorheben, die er nach der Wende in der ungarischen Demokratie verankerte. Auch aus der Perspektive der ungarischen linken Jugend ist zu empfehlen, nicht nur die Wende, sondern die Entwicklungsgeschichte der MSZP und ihres Vorsitzenden, Gyula Horn, zu betrachten. Gerade deshalb ist es unumgänglich, dass wir in moderiertem Rahmen jene Diskussionen führen, die seit den 90er Jahren ständig um seine Person geführt werden. Um eine politische Kraft zu schaffen, die sozialdemokratische und linke Werte glaubwürdig vertreten kann, müssen wir uns jenen schwerwiegenden Fehlern stellen, die das vorherige System begangen hat. Wir müssen über diese Dinge reden, doch müssen wir auch über jene positiven Entwicklungen reden, die eine sozialistische Partei in einem chaotischen System, wie dieses in den 80er und 90er Jahren in einem postkommunistischen Staat existierte, zu erreichen imstande war.
Die Demokratieverbundenheit, die Gyula Horn von der Wende an auszeichnete, sein Glaube an Chancengleichheit und Entwicklung sowie das Vertreten der Interessen des kleinen Mannes sind Attribute, auf die das heutige linke Umfeld in Ungarn bauen kann.
Es besteht der Bedarf nach Plattformen, die den erfahrenen, in der Öffentlichkeit gewandt auftretenden Politikern und den Vertretern einer jüngeren Generation, die sich für politische und gesellschaftliche Fragen interessieren, dabei helfen, zwischen ihnen einen Diskurs entstehen zu lassen.
Die zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Krisen in ganz Europa sind Grund genug dafür, einen Dialog zwischen linken und liberalen Menschen anzuregen, die imstande sein könnten, Ungarn in eine wirkliche sozialdemokratische Zukunft zu führen. Die derzeitige gespaltene Linke, die nicht imstande ist, einen Konsens zu finden, ist in ihrem jetzigen Zustand nicht in der Lage, den Kampf mit dem Populismus aufzunehmen, mit der Politikverdrossenheit der Wähler und den Auswirkungen des in allen Gesellschaftsschichten geschürten Hasses.
Wir müssen die gemeinsamen Werte und Grundlagen erkennen, die von einer einheitlichen linken Plattform glaubwürdig vermittelt werden können, damit jene Prozesse zum Stillstand kommen, die heute in Ungarn ablaufen und zu einer völligen Verarmung, dem Abrutschen großer Gesellschaftsgruppen, ja gar ihrer Rechtlosigkeit führen werden. Bei diesem Kampf kann uns das Erbe von Gyula Horn, Árpád Göncz und ihrer Weggefährten in der Politik eine große Hilfe sein.